Stephan (Blogredakteur): Wie und wann seid ihr das erste Mal mit der Thematik Flüchtlingshilfe oder der Fluchtkatastrophe selbst in persönliche Berührung gekommen?
Mario: Zuerst haben wir das Thema natürlich in den Nachrichten verfolgt. Irgendwann sah man dann auch hier im Stadtbild immer mehr Flüchtlinge. In den Medien hatte ich gelesen, dass schwule Flüchtlinge in manchen Unterkünften drangsaliert werden. Also haben wir uns überlegt, dass wir in einem solchen Fall einen oder zwei Flüchtlinge in unserem Haus aufnehmen könnten. Der Stadt war jedoch kein solcher Fall bekannt. Stattdessen bot man uns an, eine sogenannte Zimmerpatenschaft in einem Flüchtlingsheim für alleinstehende Männer zu übernehmen.
Anfangs war ich skeptisch, ob ich als schwuler Mann diese Aufgabe tatsächlich übernehmen sollte. Immerhin stammen die Männer aus gänzlich unterschiedlichen Kulturkreisen, in denen Homophobie an der Tagesordnung ist und Homosexualität teilweise mit dem Tod bestraft wird. Dann kam ich jedoch zu der Erkenntnis, dass ich mich selbst diskriminieren würde, wenn ich die Aufgabe aufgrund meiner Sexualität nicht übernehmen sollte. Außerdem wollte ich überprüfen, ob meine Befürchtungen und Vorurteile tatsächlich zutreffen. Daher habe ich einfach mal geschaut, was auf mich zukommt.
Was zählt für euch konkret dazu, Flüchtlingen zu helfen? Was sollte eurer Meinung nach auf jeden Fall für sie getan werden?
Neben einer „Grundausstattung“ ist unser Hauptziel die Integration in Deutschland: Das Erlernen der Sprache, das Respektieren unserer Werte, usw. Wir wollen aber auch unter Deutschen Präsenz zeigen: So gehen wir mit den Jungs in Restaurants, ins Schwimmbad oder nehmen Sie mit zu Familienfeiern. So lernen beide Seiten voneinander.
Was hat euch motiviert, gemeinsam den Flüchtlingen zu helfen?
Das hatte eine Vielzahl von Gründen: Ich bin selbständig und arbeite den ganzen Tag allein im Home Office am Computer. Wir wohnen in einer kleinen Stadt in Ostwestfalen, wo es nicht viele Freizeitmöglichkeiten gibt (zumindest nicht solche, die mich interessieren). Daher hatte ich schon lange nach einer sinnvollen Beschäftigung außerhalb des Büros nach Feierabend gesucht. Außerdem wollte ich endlich wieder mit Menschen zusammenarbeiten.
Zudem hat mich das Aufkommen rechter Parolen im vergangenen Jahr in Deutschland schockiert. Besonders schlimm finde ich, dass dieser Fremdenhass sogar in unserem (schwulen) Freundeskreis grassiert, der es ja eigentlich besser wissen sollte. Hier wollte ich ein Zeichen setzen.
Und zuletzt war ich auch einfach neugierig auf die Menschen, die als Flüchtlinge nach Deutschland kommen, und wollte mir selbst ein Bild machen. Schließlich bin ich selbst nicht frei von Vorurteilen und wollte diese auf eigene Faust auf die Probe stellen.
Wie genau lässt sich also eure Hilfe für die Flüchtlinge beschreiben?
Zu Beginn der Betreuung haben wir erstmal alle mit warmer Winterbekleidung ausgestattet. Einige Kleidungsstücke haben wir in einer Kleiderkammer für Flüchtlinge besorgt. Die meisten Flüchtlinge sind jedoch sehr klein, so dass es kaum passende Kleidung in ihren Größen gab. Daher haben wir die Jungs zu einem Shopping-Bummel eingeladen und vieles von unserem eigenen Geld gekauft.
Außerdem haben wir sie für Deutschkurse angemeldet, Lebensläufe für Bewerbungen erstellt oder Beratungsgespräche bei der IHK für Jobmöglichkeiten organisiert.
Der Alltag sieht momentan so aus, dass ich – als ehemaliger Lehramtstudent – abends mit den Jungs den Stoff aus dem Deutschunterricht wiederhole. Mein Mann kümmert sich um Organisatorisches, z.B. Fahrräder oder eine Wohnung zu beschaffen.
Zur besseren Integration unternehmen wir mit den Jungs Ausflüge, gehen ins Schwimmbad – und Weihnachten und Silvester hatten wir sogar alle zu uns nach Hause eingeladen. Dort haben wir gemeinsam gebacken und gekocht, anschließend gegessen und später zu syrischer Musik und Helene Fischer (die ich sonst nicht freiwillig hören würde) um den Weihnachtsbaum getanzt.
Begleitet euch eine Organisation, ein Verein oder gar eine Behörde bei eurer Hilfe? Falls nicht, wäre das ein Wunsch von euch oder doch nicht?
Das Flüchtlingsheim wird von der Stadt betrieben, diese ist mit der Versorgung der Flüchtlinge jedoch komplett überfordert. Im Grunde wird das Heim von ehrenamtlichen Helfern am Laufen gehalten. Da wir gerne individuell und unabhängig sind, stellt dies jedoch kein Problem für uns dar. Ob Kleidung oder Wohnungen – wir organisieren mittlerweile alles privat.
Mario, während du mir von der Hilfe erzählst, die du zusammen mit deinem Mann für die Flüchtlinge leistest, sprichst du von „Betreuung” der Flüchtlinge. Wählst du diesen Begriff bewusst und falls ja, worin besteht für dich der Unterschied zu dem Begriff “Hilfe”?
Unter dem Begriff „Hilfe“ verstehe ich die Versorgung mit dem Nötigsten: Kleidung, Nahrungsmittel, Organisatorisches. Unsere Betreuung ist jedoch sehr persönlich und beschränkt sich auf eine relativ kleine Gruppe von Menschen, deren Entwicklung uns sehr am Herzen liegt. Seit knapp zwei Wochen nehmen wir z.B. erfreut zur Kenntnis, dass unsere „Schützlinge“ vermehrt beginnen, ganze Sätze auf Deutsch zu sprechen. So müssen sich Eltern fühlen, deren Kinder zum ersten Mal „Mama“ oder „Papa“ sagen oder die ersten Schritte auf eigenen Beinen laufen 😉
Welche allgemeinen Infos wie z.B. Name, Herkunftsland, Alter, Religionszugehörigkeit oder Sprachen der Jungs habt ihr überhaupt?
Die Namen möchte ich hier natürlich nicht nennen. Wir betreuen ein Zimmer mit neun Bewohnern. Immer häufiger stoßen jedoch auch andere Bewohner des Heims zu unserer Gruppe.
Es handelt sich ausschließlich um alleinstehende Männer im Alter von 19 bis 45. Die meisten sind Mitte 20. Mit Ausnahme eines Irakers und eines Ghanaers stammen alle aus Syrien. Die meisten sind Kurden, einige Araber. In ihren Herkunftsländern wären Sie Feinde, hier in Deutschland wohnen Sie alle gemeinsam friedlich in einem Zimmer und unterstützen sich gegenseitig wie eine Familie.
Es sind Moslems, Jesiden und ein Christ. Insbesondere die Kurden scheinen jedoch nicht besonders religiös zu sein.
Über welche Wege findet die Kommunikation mit den Jungs statt? Verbal und/ oder non-verbal?
Der Ghanaer und ein Syrer sprechen Englisch. Alle anderen Mitglieder unserer Gruppe sprechen Arabisch und Kurdisch. Bei wichtigen Angelegenheiten spreche ich Englisch und einer übersetzt für die anderen. Ansonsten spreche ich ganz bewusst ausschließlich Deutsch, mit vielen Gesten und Zeigen. Das klappt erstaunlich gut. Zudem gehen alle 4 Tage pro Woche in die Sprachschule und fangen nun nach wenigen Wochen auch an, erste Sätze auf Deutsch zu sprechen. Und im Notfall nutzen wir eine Übersetzungs-App. Im Alltag wird diese jedoch kaum benötigt.
Welche positiven und/ oder negativen Veränderungen ergeben sich durch eure Betreuung in eurem eigenen Alltag? Welche neuen Erfahrungen und Schlüsselmomente erlebt ihr für euch selbst?
Negative Veränderungen haben sich bisher überhaupt nicht ergeben. Wenn ich dagegen sehe, dass alles, was diese Jungs besitzen, in einen Rucksack passt, lösen sich meine Luxussorgen meist sehr schnell wieder in Luft auf. Vor allem wird mir immer wieder bewusst, wie gut es uns hier in Deutschland geht – und trotzdem sind die meisten Deutschen nur am Jammern und fürchten den Untergang der Welt.
Außerdem wird mir durch die extreme (Gast-) Freundlichkeit und Dankbarkeit der Flüchtlinge jeden Tag vor Augen geführt, wie unfreundlich die Menschen in Deutschland sind (das geht mir übrigens auch schon so, wenn ich in anderen europäischen Ländern zu Gast bin). Jede Tür wird mir aufgehalten, der Stuhl am Tisch für mich zurückgeschoben und sobald ich sitze, steht auch schon eine Tasse mit dampfendem Tee vor mir. Im Gegenzug muss ich ihnen z.B. neue Kleidung förmlich aufdrängen, da sie aus lauter Bescheidenheit niemals freiwillig ein Geschenk annehmen würden, obwohl ihnen die löchrigen Schuhe nach dem langen Weg fast von den Füßen fallen.
Welche möglichen allgemeinen Konflikte im gegenseitigen Kontakt entstanden bzw. sind vorstellbar? Wie lässt sich die Atmosphäre während der Betreuung der Jungs beschreiben?
Konflikte gab es bisher überhaupt nicht. Zu Beginn habe ich versucht, den Kontakt auf professioneller Distanz zu halten, ähnlich einer Lehrer-Schüler-Beziehung. Der Versuch ist aber schon nach wenigen Tagen gescheitert: Wir wurden von Freundlichkeit und Dankbarkeit nur so überschüttet. Mittlerweile ist es eine sehr familiäre Atmosphäre: Die Jungs bezeichnen unsere Gruppe als „eayila“ (arabisches Wort für „Familie“) und nennen uns scherzhaft „Papas“. Kurz gesagt: Sie sind uns innerhalb kürzester Zeit ans Herz gewachsen.
Wie empfindet ihr das Aufeinandertreffen von vermutlich unterschiedlichen kulturellen Werten? Kommt es überhaupt dazu und wenn ja, auf welche Weise (Sprache, Mimik, Gestik, Stimmlage,…) ?
Wie ich bereits oben sagte: Bisher ist es zu keinem einzigen Konflikt gekommen. Sämtliche Vorurteile und Befürchtungen, die ich vor der Betreuung hatte, haben sich wirklich durchgehend in Luft aufgelöst: Sie schütteln Frauen die Hand, lassen vor Arzthelferinnen und Krankenschwestern die Hüllen fallen und sich untersuchen, singen auf Weihnachtsfeiern christliche Lieder, mögen Hunde und trinken (bis auf eine Ausnahme) sogar Alkohol.
Einzig im Bereich Sexualität sind doch deutliche Unterschiede erkennbar, z.B. beim Anblick von barbusigen Frauen in Zeitschriften (z.B. im „Stern“ im Wartezimmer einer Arztpraxis) oder leicht bekleideten Schaufensterpuppen in BH und Strapse: Da wird dann schnell verschämt weggeschaut, um nicht ertappt zu werden, oder rot anzulaufen. Den Anblick der Bikini-Mädchen im Schwimmbad haben sie aber unbeschadet überstanden.
Ich könnte mir vorstellen, dass euer Engagement als Paar etwas Neues für die Flüchtlinge ist. Welches Bauchgefühl habt ihr hierbei? Und inwiefern seid ihr als Paar überhaupt präsent bzw. erkennbar?
Das ist natürlich ein Punkt, der mir vor Beginn der Betreuung viel Kopfzerbrechen bereitet hat. Zu Beginn habe ich mich der Gruppe allein vorgestellt. Doch die Atmosphäre war vom ersten Tag an so herzlich, dass ich bereits nach zwei Wochen meinen Mann mit ins Flüchtlingsheim genommen habe. Dort habe ich ihn neutral als meinen Freund („my friend“) vorgestellt. Das mache ich übrigens mit neuen Bekanntschaften immer so. Ich muss nicht jedem Menschen gleich bei der ersten oder zweiten Begegnung verraten, dass ich schwul bin.
Einmal pro Woche bringen wir die Jungs mit unseren Autos zum Sport. Ziemlich schnell haben sie natürlich mitbekommen, dass ich manchmal auch das Auto meines Mannes fahre. Dann habe ich erklärt, dass wir zusammenleben und es „unsere Autos“ sind, was ohne nachzufragen abgenickt wurde. Zu Weihnachten und Silvester waren Sie dann zum ersten Mal in unserem Haus. Da kam die Frage, ob wir hier allein oder mit Frauen leben. So haben wir erklärt, dass nur wir zwei Männer in dem Haus leben („like a married couple“). Die Antwort wurde respektiert und seitdem wurde nie wieder gefragt, ob wir verheiratet wären und Kinder hätten (was zu Beginn sehr häufig passierte). Stattdessen richten Sie nun meinem Mann täglich Grüße aus und erkunden sich nach seinem Wohlbefinden (,da er in Festanstellung arbeitet, verbringe ich die meiste Zeit mit den Jungs).
Ich frage mich, weshalb eure Ehe für die Hilfe überhaupt relevant sein sollte. Macht es hinsichtlich der Hilfe einen Unterschied, ob man als Mann einen Mann oder eine Frau liebt? Ganz zu schweigen davon, dass das niemanden etwas angeht. Schließlich erzählen andere Menschen auch nicht ungefragt, dass sie heterosexuell ist.
Das sehe ich genauso. Hier gibt es interessanter Weise nur Meinungsverschiedenheiten mit deutschen Freunden – egal ob Homos und Heteros. Diese sind zum Teil der Meinung, wir müssten den Flüchtlingen unbedingt sagen, dass wir schwul sind. Allerdings finde ich, dass das unsere Privatsache ist. Eine Lehrerin muss Ihren Schülern auch nicht verraten, dass sie und ihr Ehemann begeisterte Swinger sind. Und wenn ich neue Bekannte oder Geschäftspartner treffe, stelle ich mich auch nicht mit den Worten „Hallo, ich bin Mario und schwul“ vor. Doch wenn mich jemand danach fragt, antworte ich natürlich wahrheitsgemäß. Aber ich binde es auch nicht jedem auf die Nase. Genauso handhaben wir es mit den Flüchtlingen: Sie wissen, dass wir wie ein Ehepaar zusammenleben und nennen uns trotzdem noch „Papa“ – was will man mehr? Im Übrigen mischen wir uns auch nicht in Ihre Beziehungsangelegenheiten. Und ehrlich gesagt finde ich diesen respektvollen Umgang auch sehr angenehm.