Deutschlands queerster Friedhof

Die Sonne scheint, einige Besucher bummeln schweigend zwischen den Grabreihen entlang. Die Gärtner tragen abgeschnittene Zweige zusammen, ein Mann sitzt auf einer der Parkbänke und liest ein Buch. Der Alte St. Matthäus Kirchhof scheint ein Friedhof zu sein wie viele andere. Am Eingang des Friedhofs wiegen sich Palmen sanft im Wind … Palmen?

Der Friedhof im Herzen von Schöneberg ist die letzte Ruhestätte der Märchenbrüder Jakob und Wilhelm Grimm; dem Hitler-Attentäter Graf von Stauffenberg zu Ehren wurde hier ein Denkmal errichtet. In den letzten Jahrzehnten erlangte der Alte St. Matthäus Kirchhof jedoch Berühmtheit wegen etwas anderem: Er gilt als inoffizieller „Schwulenfriedhof“ Deutschlands. Zahlreiche prominente AIDS- und Schwulenaktivisten fanden hier ihre letzte Ruhe.

 

Ein Hauch Extravaganz

Hinter den sich wiegenden Palmen versteckt sich ein kleines Café, das finovo. Es gilt als Deutschlands erstes Friedhofscafé – sein Name bedeutet „Ende & Anfang“. Bunt zusammengewürfelt stehen Stühle auf der kleinen Terrasse, ein Plastikkronleuchter hängt vom Gestänge des Sonnenschirms. Schräg neben dem Eingang zieht eine mit glitzernder Deko behangene Büste die Blicke auf sich.

Bernd Boßmann eröffnete das Café im September 2006. Sein Künstlername: Ichgola Androgyn. Der Schauspieler und Schwulenaktivist spielte unter anderem in vielen Filmen Rosa von Praunheims. In den 1980er und 1990er Jahren sammelte er gemeinsam mit anderen Künstlern Geld für AIDS-Hilfe-Projekte. Unter den Künstlern war Ovo Maltine – auch ihre letzte Ruhestätte befindet sich auf dem Friedhof.

„Garten der Sterne – Die Märchenhafte Geschichte eines queeren Berliner Friedhofs“ verkündet ein Schild vor dem Café. Es bewirbt die gleichnamige Dokumentation aus dem Jahre 2017, die von Boßmann und dem Friedhof handelt. Der „Garten der Sterne“ ist eine Abteilung des Friedhofes, in der Familien Abschied nehmen können von still- oder totgeborenen Kindern. Es ist Boßmanns Herzensprojekt – initiiert von ihm und dem Verein Efeu, der sich um die Instandhaltung des Friedhofs kümmert.

Der Spaziergang über den Friedhof lohnt. Neben vielen Grabstätten bekannter Schwulenaktivisten und Ikonen, von denen wir einige für euch aufgeführt haben, befindet sich hier auch das Denkmal des Vereins „Denk mal positHIV“ für alle, die an den Folgen von AIDS starben. Der Gang über den Friedhof ist eine gute Gelegenheit, sich mit der queeren Vergangenheit Berlins auseinanderzusetzen. Anschließend empfiehlt sich ein Besuch im finovo, denn Boßmann hat weitere interessante Geschichten auf Lager – und leckeren Kaffee.

Rio Reiser

„Ich hab so viele Leben wie Sterne am Himmel stehen“, sang Rio Reiser einst – der Frontmann der Kultband „Ton Steine Scherben“ starb 1996, sein Grab zog 2011 um. Nun befindet es sich auf dem inoffiziell schwulsten Friedhof Deutschlands, dem St. Matthäus Kirchhof in Schöneberg.

Manfred Salzgeber

Sein Leben stand ganz im Zeichen des Films – Der deutsche Schauspieler und Filmemacher wurde von Rosa von Praunheim entdeckt, spielte 1970 in dessen Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Zeit, in der er lebt“. Nicht zuletzt damit wurde Salzgeber zu einer der Schlüsselfiguren der deutschen Homosexuellenbewegung.
1985 gründete er den Filmverleih „edition salzgeber“, der sich der Veröffentlichung von Filmen bis dato unbekannterer Regisseure widmete. Der Schwerpunkt lag damals auf der AIDS-Thematik, da sich an diese Filme kein anderer Verleih heranwagte.
Gemeinsam mit seinem Assistenten schuf Manfred Salzgeber 1987 den „Teddy Award“ – hiermit werden auf der Berlinale bis heute schwul-lesbische Filme ausgezeichnet.

Napoleon Seyfarth

Der Schriftsteller und Kolumnist provozierte gern – mit seiner Offenheit zu sexuellen Themen oder mit makabren Inszenierungen. Der HIV-positive Künstler stellte beispielsweise in seiner Wohnung den Sarg zur Schau, in dem er später beerdigt werden wollte: bunt lackiert, mit Zeichnungen von Engeln und Schweinen bemalt. Desöfteren fand der Sarg auch Funktion als Sektkühler.
Seyfarths 1991 erschienener autobiographischer Roman „Schweine müssen nackt sein. Ein Leben mit dem Tod“ war eines der ersten deutschen Werke zum Thema AIDS. Nachdem Seyfarth am 2. Dezember 2000 starb, wurde auch er auf dem St.Matthäus Kirchhof in Schöneberg beerdigt.

Charlotte Wolff

Auch auf dem Kirchhof zu finden ist der Gedenkstein für die jüdische Ärztin, Sexualwissenschaftlerin und Schriftstellerin Charlotte Wolff. Sie veröffentlichte in den 70ern wichtige Werke zur weiblichen Homosexualität und brachte damit die Lesbenbewegung weit voran.

Ovo Maltine

Ovo Maltine, die mit bürgerlichem Namen Christoph Josten hieß, war eine deutsche Travestiekünstlerin, die besonders im Bereich des Polit-Kabaretts tätig war. Auch als AIDS-Aktivist und Mitglied der Schwestern der Perpetuellen Indulgenz war sie bekannt; darüber hinaus wirkte sie an diversen Filmen Rosa von Praunheims mit. Ovo Maltine starb 2005 an den Folgen einer HIV-Infektion.

 

Sichtbarkeit über den Tod hinaus

 

 

Bei einem Spaziergang über den Friedhof findet man oft schwule Symbolik auf den Grabstätten – wie auf dem Grabstein von Napoleon Seyfarth und … Sichtbarkeit über den Tod hinaus – das ist auch ein Anliegen der Sappho-Frauenwohnstiftung. Sie eröffneten 2014 den ersten offiziellen Lesbenfriedhof Deutschlands. Das Areal liegt auf dem Georgen-Parochial-Friedhof I im Prenzlauer Berg. Laut Verein ist er ein Statement gegen die weitgehende Unsichtbarkeit weiblicher Homosexualität. Auch andere Friedhöfe in Berlin bieten Grabstätten schwuler und queerer Ikonen. Wir haben eine kleine Auflistung vorgenommen – natürlich gibt es noch mehr zu entdecken.

 

Hildegard Knef

Waldfriedhof Zehlendorf

Die deutsche Schauspielerin und Chansonsängerin gilt auch nach ihren Lebzeiten noch als Ikone der Schwulenbewegung. Auf die Nachfrage, warum sie von der Schwulenszene so verehrt würde, erklärte sie 1975: „Vielleicht, weil ich sehr liberal bin. Und weil das wirklich ein ehrliches Gefühl ist und kein aufgesetztes.“

 

Marlene Dietrich

III. Städtischer Friedhof Stubenrauchstraße

„La Dietrich“ ist nicht nur eine Ikone der Schwulenbewegung- Durch ihre rauchige Stimme, ihr androgynes Erscheinungsbild und das Spiel mit Stereotypen revolutionierte die deutsche Schauspielerin Geschlechterrollen und Modewelt gleichermaßen. In ihrem ersten Hollywoodfilm „Marokko“ küsste Marlene Dietrich 1930 eine andere Frau – in einen Smoking gehüllt, ihr späteres Markenzeichen. Ihr Grab auf dem Friedhof an der Stubenrauchstraße gehört zu den Ehrengräbern der Stadt Berlin.

 

Heinrich von Kleist

Am kleinen Wannsee

„Ich heirate niemals, sei du die Frau mir, die Kinder, und die Enkel!“, schrieb Heinrich von Kleist 1803 an den preußischen General Ernst von Pfuel.
Von dem Hügelgrab aus überblickt man den kleinen Wannsee. Das Grab liegt nicht auf einem Friedhof – das war damals nicht erlaubt. Denn hier starben Heinrich von Kleist und seine enge Freundin 1811 durch Suizid. Heinrich von Kleist war ein zu seiner Zeit verkanntes Genie der deutschen Literatur, seiner Epoche weit voraus. Auch Goethe nahm ihn nicht ernst, obwohl Kleist es sich so wünschte. Erst Jahrzehnte nach seinem Tod wurden seine Werke wiederentdeckt und zu Klassikern der Weltliteratur.
Zu wenig aus seinem Leben wurde überliefert, so konnte seine Sexualität nie einwandfrei geklärt werden – der Schmerz darüber, nicht dazuzugehören und anders zu sein, zieht sich jedoch wie ein roter Faden durch sein Werk.

Charlotte von Mahlsdorf

Evangelischer Waldkirchhof Mahlsdorf

Charlotte von Mahlsdorf galt zeitlebens als berühmteste Transperson Deutschlands. Die Trödelhändlerin und -sammlerin eröffnete 1960 das Berliner „Gründerzeitmuseum“ im Gutshaus Mahlsdorf, das sie damit vor dem Abriss rettete. Durch ihr Wirken entstand in dem noch heute existierenden Museum eine der bedeutendsten Sammlungen von Gegenständen aus der Gründerzeit.
1963 rettete sie die „Mulackritze“, die letzte komplett erhaltene Berliner Kneipe aus dem Scheunenviertel – und richtete sie im Keller der Museums wieder ein. Daraus entstand ein Treffpunkt der Homosexuellen Interessengemeinschaft Berlins (HIB).
Der Filmemacher Rosa von Praunheim verfilmte 1992 die Biografie Charlotte von Mahlsdorfs in dem Film „Ich bin meine eigene Frau“. Gespielt wurde sie in dem Film von niemand anderem als Bernd Boßmann.
In Gedenken an Charlotte von Mahlsdorf, ihre Arbeit an dem Museum und ihren öffentlichen Kampf für die Rechte von LGBT wurde ein Gedenkstein auf dem Gelände des Gründerzeitmuseums eingeweiht.

David Bowie

Hauptstraße 155, Schöneberg

Gut, streng genommen ist die Gedenktafel kein Grab – David Bowie darf in dieser Auflistung jedoch auf keinen Fall fehlen. Er lebte in der Stadt und drückte ihr seinen Stempel auf – und Berlin ihm den ihrigen. Ende der 1970er Jahre lebte und schrieb der androgyne Popstar hier seine drei Alben „Low“, „Heroes“ und „Lodger“, die als „Berliner Trilogie“ bekanntwurden. Hartnäckig hält sich auch das Gerücht über seine Liebesaffäre mit Rockstar Iggy Pop: die beiden waren in Berlin Mitbewohner. Auf seinem 24. Studioalbum aus dem Jahre 2013 erinnert die erste Single „Where Are We Now?“ an seine Zeit in der Hauptstraße 155 in Schöneberg – hier findet sich auch die Gedenktafel.